KOLUMNE
Montag, 18. 4. 2011

von Mag. Marisa Fellner

AUS LIEBE ZUM LEBEN

Mit welchen Krankheiten werden welche Menschen geschlagen? Warum bekommen die einen Krebs und die jeweiligen PartnerInnen müssen damit leben lernen, dass er einen Zweiten hat, der Krebs hat, der zweite Flügel krank ist. Denn es wird ja oft von zwei Flügeln gesprochen bei Menschen, die einander sehr verbunden sind. Du bist mein zweiter Flügel, denn zum Fliegen braucht man zwei und dann bin ich ein Engel.

Und warum bekommen andere keinen Krebs, aber dafür das Leben schwer beeinträchtigende Leiden und die PartnerInnen lernen nicht damit umzugehen, weil es aus der Sicht des Gesunden als nicht so schlimm eingestuft wird, solange es keine tödliche Krankheit ist. Und warum besiegen manche den Krebs und andere auch wieder nicht?

Wer bestimmt, woran man leidet? Fernsichtigkeit oder Kurzsichtigkeit? Und welchen Einfluss nimmt dies auf unser Leben? Wie unterscheidet sich das Leben von Kurzsichtigen, die ständig eine Brille tragen müssen von dem der Normalsichtigen und was sehen sie anders? Gibt es Kategorien? Kann man sagen alle Krebspatienten haben die gleichen Probleme – oder alle Fehlsichtigen? Und welche Probleme wären diese dann? Wie unterscheiden sie sich von jemand, der eine unbekannte Krankheit hat? Wie geht es mir, wenn ich mich immer krank fühle und nicht weiß warum, im Gegensatz zu jemand, der eine eindeutige Diagnose hat? Sind Diagnosen auch wirklich eindeutig? Wer bestimmt die Länge des Lebens? Oder sagt man besser die Dauer des Lebens? Was heißt Dauer? Heißt Dauer verweilen und heißt Länge ausharren? Ist bereits in diesen beiden Wörtern eine Unterscheidung versteckt?

Muss man erst krank werden, um seine Ganzheit zu finden? Oder gar sterben? Was sagt jemand der viele Erfahrungen mit totgeweihten PatientInnen gemacht hat?

 „Wenn ich jemandem aufmerksam zuhöre, seinem innersten Selbst oder dem, was man seine Seele nennt, dann finde ich oft, dass dieser Mensch auf der tiefsten und unbewusstesten Ebene bereits spürt, in welche Richtung seine Heilung und seine Ganzheit zu finden sind………dass sich im Laufe der Zeit etwas aus unseren Gesprächen herauskristallisieren wird, was Teil eines größeren kohärenten Musters ist, das keiner von uns beiden in diesem Augenblick gänzlich zu erkennen vermag.“ Dies schreibt Rachel Naomi Remen in „Gesegnet werden“, dem ersten Teil ihres Buches „Aus Liebe zum Leben“.

Im zweiten Teil „Zum Segen werden“ schreibt sie über verschiedene Formen von Yoga, die helfen den Weg zu Gott zu finden und gibt eine Empfehlung, wie man zu neuen „Augen“ kommt: Jeden Abend schreiben Sie in ein Tagebuch die Antworten auf drei Fragen: Was hat mich heute überrascht? Was hat mich heute bewegt oder berührt? Was hat mich heute inspiriert? Dabei ist  das Wesentliche nicht die Menge, sondern das Betrachten aus einer neuen Perspektive.

Im dritten Teil „Stärke finden, Zuflucht nehmen“ wird es dann nun echt interessant, jetzt geht es richtig in die Tiefe und die Spannung steigt rasant an. Remen ist Ärztin und beschäftigt sich seit vielen Jahren mit KrebspatientInnen und so schreibt sie nun: „Im Laufe der Jahre haben viele Menschen, die sich mitten in einem tiefgreifenden Umbruch in ihrem Leben befanden, mir erzählt, dass sie nicht wirklich etwas verloren hätten, da Verlust ja doch eine Illusion sei. ‚Es gibt keinen Verlust, es gibt nur lernen‘ haben sie gesagt, offenbar ehrlich davon überzeugt. Aber ich habe da so meine Zweifel  … es gibt keine spirituelle Abkürzung.“

Sind Menschen, die reich geboren sind, die sich um nichts außer sich selbst kümmern müssen bevorzugt? Aus meiner Sicht müsste man alle Stadien durchlaufen können, um mitreden zu können, aber so wird es wohl ein ewiges Mysterium bleiben.

 Remen meint, „die Kernursache von Stress ist also vielleicht nicht ein herrschsüchtiger Chef, ungezogene Kinder oder der Zusammenbruch von Beziehungen. Sie ist vielmehr der Verlust unseres Sinns für die Seele … es ist eben nicht so, dass wir eine Seele haben, sondern dass wir einer Seele sind.“ Und sie schreibt von den vielen Seelen, mit denen sie in bitterer Stunde der Not und meistens auch in der letzten Stunden ihres Lebens zusammengearbeitet hat und über die Zusammenhänge im Leben, die oft erst Jahre später an das Licht kommen, dort wo wir sie auch erkennen können.

In diesem Buch wird über viele Menschen, die im Sterben liegen, erzählt. Dies ist teilweise sehr ergreifend und berührend. Beim Lesen reagiert unsere Seele und manche, sagen sie  werde durch dieses Buch geheilt.

„Die Sicht vom Rande des Lebens aus ist eine andere, und oft ist sie viel klarer als die, mit der wir die Dinge gewöhnlich sehen. eine lebensbedrohliche Krankheit kann die Menschen dazu bringen, Dinge infrage zu stellen, die sie zuvor für unverrückbar gehalten haben. Werte, die in der Familie seit Generationen überliefert wurden, können sich als unangemessen erweisen; lebenslang gehegte Vorstellungen über unsere persönlichen Fähigkeiten und das, was im Leben wichtig ist, mögen sich als falsch erweisen. Wenn das Leben auf das Wesentliche reduziert wird, ist es überraschend, wie einfach die Dinge werden können. immer weniger Dinge bedeuten uns etwas und die, die uns etwas bedeuten, bedeuten uns sehr viel mehr. Als eine Ärztin für Krebserkrankungen bin ich den Strand am Rande des Lebens entlanggelaufen und brauchte die Weisheit nur aufzuheben wie Muscheln.“ Dies ist die Einleitung zum sechsten und letzten  Kapitel „Die Wiederherstellung der Welt“.

Lassen Sie sich inspirieren von den Worten einer ehemaligen Kinderärztin, die dann ins Erwachsenengenre gewechselt hat.

L I T E R A T U R

Rachel Naomi Remen
AUS LIEBE ZUM LEBEN
Geschichten, die der Seele gut tun
gebundene Ausgabe, 384 Seiten
arbor Verlag, April 2010

ISBN: 978-3924195823

Euro 19,90

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