KOLUMNE
Sonntag, 29. Juli, 2001

von Mag. Marisa Fellner

GEBEN UND NEHMEN - und deren Gefahren

Wer denn nun glaubt, in der Sozialarbeit handle es sich nicht um ein ständiges Geben und Nehmen, der irrt gewaltig.

Dieses Austauschprinzip beherrscht die Welt, allerdings nicht immer auf eine gute Art und Weise. Bedrohlich wird es für Menschen, die nichts mehr zu geben haben. Denn dies zeigt davon, dass ihnen im Laufe ihres Lebens so viel genommen wurde, dass sie nichts mehr zu geben haben. "Unfaires Geben und Nehmen sind also für sie bzw. ihre AdressatInnen bei Lichte betrachtet kein Sonder-, sondern eher der Normalfall." 1 Wohin das führen kann, also welche Gefahren sich dahinter verbergen, ist hoffentlich klar.

"Soziale Arbeit wird deshalb gerade in diesem Zusammenhang die Frage beantworten müssen: Unter welchen Bedingungen Austauschnetze angesichts der Tatsache, dass viele ihrer KlientInnen keine attraktive TauschpartnerInnen sind, überhaupt herstellbar sein." 1 Ich sage dazu, dass die Reziprozität auf wirtschaftlicher Basis vielleicht nicht eingehalten wird, obwohl ich dies nun nicht wirklich behaupten will, aber menschlich kommt sehr viel zurück und dies ist mit Geld gar nicht zu bewerten. Allerdings muß man sich dabei einlassen können und wollen.

In Österreich geht es bei der Sozialarbeit sehr institutionalisiert zu und man braucht nicht mit Gefängnis drohen. "Zu erinnern ist aber auch an inhaftierte oder ermordete SozialarbeiterInnen in Lateinamerika, in Südarfika. Dort gibt es unter anderem heute auch Winnie Mandela, erste schwarze Sozialarbeiterin Südarfrikas, die seit über 20 Jahren in der Verbannung oder im Gefängnis lebt und ein unsäglich entbehrungsreiches, radikal barmherziges wie radikal politisches Leben in einer feudalen, rassistischen Gesellschaft führt, ohne in das der hiesigen Literatur und Praxis so häufige Lamento über fehlende Handlungsspielräume zu verfallen." 1 Sie hat sich wirklich für die unterste Schicht eingesetzt. Vielleicht gibt es diese Art der Hingebungsgabe nicht so häufig und schon gar nicht in Europa, wo Wirtschaft und Politik sich bis ins kleinste Wohnzimmer durchgeschmuggelt haben, ohne dessen Bewohnern überhaupt bewusst zu sein. Wo Medienpolitik ihre stärksten Auswirkungen hat, wo Konsumgüter zum oft unerreichbaren Lebensziel werden, wo der Glaube an Reichtum den Staub auf den Regalen nicht mehr erkennen läßt.

"Die Wegmetapher, als eine Möglichkeit über Zukunft (sozial repräsentativ) zu kommunizieren, ist durch eine individualistische Sichtweise geprägt. Soziale Bedingungen, die den Verlauf des Weges beeinflussen könnten, beispielsweise hierarchische Strukturen, werden nicht thematisiert. Im Vordergrund steht die Aufrechterhaltung einer Orientierung nach vorne und das Einhalten einer entsprechenden (azyklischen) Dynamik. Dem Erreichen von Zielen wird ein wichtiger Stellenwert eingeräumt. ... Persönlich setzt man/frau sich laufend Ziele und wenn diese erreicht sind bzw. sich diese als unerreichbar herausstellen, dann setzt man sich neue. Das ‚Ziele setzen‘ ist grundlegend, weniger wichtig erscheint die Qualität der Ziele. ... Die religiösen (‚religio‘ = Bindung) Wurzeln manifestieren sich in dem vorliegenden Text insbesondere in der Frage, wohin der Weg führt. Dabei wird durch ‚ewiges Leben‘ eine Art Bewusstseinserweiterung möglich. ... Ein Umstand scheint mir bemerkenswert, nämlich dass man mit religiösen Wissensbeständen konfrontiert wird, wenn man sich mit Zukunft empirisch auseinandersetzt. Eine mögliche Folgerung ist, dass eine zukunftsfähige gesellschaftliche Entwicklung, Versuche ‚Anderes‘, ‚Neues‘ zu implementieren, mit der Berücksichtigung der (‚religio‘!) Vergangenheit einhergeht bzw. verbunden sein sollte." 2

Die von Herzog beschriebe Wegemetapher ist auf sehr viele Bereiche des Lebens anwendbar. Er bezieht sich in seinem Buch auch sehr viel auf Jugendliche. Es ist ein hoch philospohisches und pädagogisch, sozialarbeiterisch orientiertes Werk, dass uns auch zum Nachdenken anregen sollte.

"Die Wegmetapher im alltäglichen und wissenschaftlichen Sprachgebrauch: Wenn zwei Menschen sich entschließen zu heiraten, also ein entscheidendes Lebensereignis begehen wollen, dann hört man immer wieder ‚die haben sich entschlossen, zukünftig gemeinsam den Weg des Lebens zu beschreiten‘ d. h. man stellt sich ein Paar vor, dass gemeinsam entlang eines Weges geht bzw. sich auf den Weg macht." 2

Aber auch in der Bibel wird oft von Wegen gesprochen und die Sozialarbeit würde sich wahrscheinlich so manch einen Klienten ersparen, wenn die Menschen mehr bibelorientiert leben würden. Es wäre bereits ein Anfang, sich einmal mit der Bibel zu bschäftigen, darin zu lesen und unverständliche Teile zu hinter-und befragen.

"Bereits im Alten Testament finden sich diverse Stellen, bei denen mit Hilfe des Wegbildnisses Zukunft thematisiert wird. Dabei sind besonders die Psalmen und Sprichwörter zu erwähnen, denn dort wird häufig und mit unterschiedlichen Inhalten mit Hilfe von Wegen kommuniziert. Kalkbrenner (Anmerkung: Kalkbrenner ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des österreichischen katholischen Bibelwerkes im Stift Klosterneuburg) erachtet die Wegmetapher als grundlegendes Bildnis der Bibel und der katholischen Kirche generell. Das alte Testament entspricht im Grunde einer Weggeschichte, die mit dem Auszug aus Ägypten beginnt und ins gelobte Land führen soll ‚... aus diesem historischen Hintergrund entstand die Idealform des unterwegs seins, die wir heute im übrigen auch in der Wallfahrt wiederfinden‘. ... Ein Sinn von Kirche ist die Erneuerung, Kirche befindet sich ständig im Wandel, der niemals abgeschlossen sein wird. Auch bei einer Pilgerfahrt geht es in erster Linie um die Fahrt, die Bewegung, sekundär ist das Erreichen des Zieles. Gott trifft das Volk nicht am Ziel (= Land Kanaan), sondern er zieht mit seinem Volk, er ist mit ihm unterwegs (vgl. auch Psalm 68). ‚Zukunft‘ heißt: ‚Es kommt etwas auf mich zu, Gott kommt auf mich zu‘." 2

Staub-Bernasconi sieht die Gefahren des Gebens und Nehmens in der Sozialarbeit in einer Verknüpfung des oben bereits angerissenen Textes. "Soziale Arbeit kann entsprechend als Beruf betrachtet werden, der die schwierige Funktion zu erfüllen hat, die verschiedenen Logiken des Geben und Nehmens, nämlich Liebe als Nähe, Empathie, Beistand, (rechtlichen) Schutz und Macht als Distanz, kognitive Dezentrierung, forderung, Kontrolle in ein komplexes, sich gegenseitige bedingendes Verhältnis zu bringen. Denn: Wirksame Hilfe ist in einer vertikal und funktional stark differentzierten Gesellschaft mit weithin zerstörten Reziprozitätsverpflichtungen nicht möglich ohne Machtquellen und mithin ohne einen Machtvorsprung. Und Macht ohne Liebe und Fürsorglichkeit als Strukturprinzip wird zum Geld, Waren, Effizienz und Stärke bestimmten Management von Problemen. Weil die Verknüpfung dieser beiden Logiken äusserst schwierig und jederzeit pervertierbar ist, besteht im Sozialwesen immer wieder die Gefahr, die eine zugunsten der anderen aufzugeben." 1

L I T E R A T U R
1: Silvia Staub-Bernasconi: Systemtheorie, soziale Probleme und Soziale Arbeit: lokal, national, international
oder: Vom Ende der Bescheidenheit
Schriftenreihe der Arbeitsgemeinschaft der Schulen f? Soziale Arbeit Band 13, 1. Auflage
Haupt-Verlag
DEM 48.- / ATS 351.- / CHF 43.-
2: Herzog, Matthias: Jugend und Sustainable Development. Ein soziales Denkbuch ?er Zukunft.
Peter Lang - Europ?scher Verlag der Wissenschaften, Frankfurt am Main 1999

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